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Therapeutisches Reiten - eine ganz andere Definition (25.01.2021 21:53:30)

Therapeutisches Reiten ist wohl jedem ein Begriff. Es wird grundsätzlich folgendermaßen beschrieben:

Therapeutisches Reiten umfasst pädagogische, psychologische, psychotherapeutische, rehabilitative und sozial-integrative Maßnahmen, die über das Medium Pferd umgesetzt werden. Zielgruppe sind Kinder, Jugendliche oder Erwachsene mit körperlichen, seelischen und sozialen Entwicklungsstörungen oder Behinderungen. 

Nun kam mir kürzlich in den Sinn, dass es sich doch eigentlich auch ganz anders definieren lässt. Als ich so über meine Arbeit mit Reitern und ihren Pferden nachdachte, fiel mir auf, wieviele Pferde man eigentlich in den vergangenen Jahren schon therapiert hat. Wenn ich mich so zurück erinnere, dann denke ich an so einige Pferde und ihre Vorgeschichten. Was meinen Job so interessant macht, ist die Vielfalt an Charakteren, sowohl auf 2, als auch auf 4 Beinen. Wenn ich jemanden neu kennenlerne im Zuge des Reitunterrichts, erfrage ich immer die Vorgeschichte, und das ist sehr interessant. Ich erinnere mich gut an eine Stute, der man versuchte, den Springsport näher zu bringen, bevor sie zu ihre Besitzerin kam. Da die Stute über beste Springabstammung verfügte, sollte sie eben auch - wie ihre Vorfahren - ein erfolgreiches Springpferd werden. Da ihre Linie ja große Erfolge versprach, fragte man das Pferd gar nicht, was ihm möglich ist, man setzte dies voraus. Schnell sollte es gehen, erfolgreich sollte es sein. Hätte man die Stute doch auch mal gefragt... Diese war offensichtlich total überfordert, und hielt dem Druck nicht stand. Sie entschied sich dazu, sich völlig zu verweigern.  Somit wurde sie als "unwillig ,ohne Mumm in den Knochen" einfach "aussortiert". Sie kam in ein ganz tolles neues Zuhause, in der man die Einstellung hatte "alles kann, nichts muss". Für dieses Pferd genau das Richtige. Wir arbeiteten dieses Pferd ganz in Ruhe erstmal vorwärts abwärts, statt hartgas aufwärts... Die Stute fing an, viel mehr Ruhe für alles zu entwickeln und kam mit sich und der Welt wieder viel besser zurecht. Sie bekam sogar richtig Spaß an der Arbeit! Dann versuchten wir es mit Stangenarbeit. Erst war natürlich Panik angesagt. Wir arbeiteten ganz entspannt, komplett ohne Druck - und siehe da! Das gefiel ihr, und Stangen waren überhaupt kein Feindbild mehr. Wir wagten uns auch wieder an ganz niedrige Sprünge, um ihr zu erklären, dass das auch alles ganz anders, nämlich locker flockig, funktioniert. Demnach dauerte es nicht lange, und sie sprang völlig zufrieden wieder einen kleinen Parcour. Ein Turnier musste sie nicht mehr besuchen, aber sie bekam sowohl an der Dressurarbeit, als auch am Springen so richtig Freude. Vertrauen und Gefühl waren die Zauberwörter.  

Oder das Dressurpferd mit dem Taktfehler. Dies wurde an seine Besitzer verkauft, da es nicht mehr turniertauglich war (was will man denn bitte auch mit einem so unsportlichen Pferd?! *Sarkasmus aus*). Es hatte einen enormen Taktfehler aus der Schulter im Schritt, auch im Trab deutete es sich teilweise an. Es wurde also geröntgt, geschallt, auf den Kopf gestellt - ohne Befund für die "Lahmheit". Die neuen Besitze - das Pferd hat es dann wirklich großartig getroffen und kam zu einer ganz lieben Familie - erzählten mir also von seiner Odyssee und dass sie sich so sehr in ihn verliebt haben, dass sie alles in Kauf genommen haben und ihm ein schönes Leben ermöglichen möchten. Die Ankaufsuntersuchung blieb ebenfalls ohne Befund, niemand wusste, was dem Pferd fehlt.  Als ich den äußerst sympathischen Wallach also kennenlernte, seine Geschichte im Hinterkopf, war für mich sofort klar: Ha! Den bekommen wir locker hin, der muss lernen sich zu dehnen (konnte er leider nicht frown), sich selber zu tragen, das Gebiss zu suchen und unabhängig vom Zügel zu laufen! Gesagt, getan. Ein unfassbar dankbares Pferd. Taktfehler, Lahmheit, oder wie man es auch immer nennen möchte, behoben. Manchmal, wenn er kurz den 3jährigen Hengst spielt und sich ein wenig gockelhaft verhält, ist es noch kurz mal zu erkennen. Da heißt es dann Po entspannen, Oberschenkel locker, Hand noch nachgiebiger - wieder heil. Es war einfach so, dass dieses Pferd gesamtheitlich zu eng und mit falschem Knick geritten wurde, offenbar mit deutlich zu starken Zügelhilfen, mal vorsichtig ausgedrückt. Da hat die Schulter irgendwann aufgegeben, nach vorne zu schwingen, ging ja nicht, Hand/Zügel waren im Weg und haben es verhindert...

 

Auch erinnere ich mich gut an die Sagenhafte Geschichte einer wundervollen Stute zurück, die Gebisslos geritten wurde (was grundsätzlich natürlich völlig okay ist!!!), weil Pferd und Reiter an einem Punkt waren, an dem nichts mehr ging (O-Ton Reiterin). Somit einigte man sich auf gebissloses, weitestgehend entspanntes Reiten. Perfekter Ansatz! Das war genau die richtige Idee. Man war in der Vergangenheit nicht ganz dem Pferd/Reiter angemessen "beraten" worden, und kam zum vermeintlichen Total-Error. Die Stute hatte leider kaum einen Muskel da, wo er sein sollte. Das ist heute anders. Die Stute liebt die Arbeit, man muss sie oftmals etwas bremsen in ihrem Ehrgeiz, ein Pferd mit einer unfassbaren Einstellung! Mittlerweile kommt sie aus jeder Dressur mit höchsten Noten, ist glücklich, zufrieden und will arbeiten. Ja, ganz recht, Gebiss funktioniert wieder bestens! Was nicht heißt, dass sie nicht auch einfach mal gebisslos und ohne Sattel geritten wird wink. Diese Stute kam wie Phoenix aus der Asche, denn sie hat eine so liebevolle Besitzerin, die an oberste Stelle das Wohlergehen des Pferdes stellt. Rückenmuskulatur gestärkt, Oberhals hin, Unterhals weg, Bauchmuskulatur und Knackpo sichtbar machen - siehe da, ein lockeres, durchlässiges Pferd, dass korrekt über den Rücken läuft, der Schweif pendelt, die Nase an der Senkrechten, raumgreifendes Gangwerk - ein Dressurtraum! Mit kompletter Springabstammung laugh Springen kann sie demnach auch in bester Manier. Reiterin, Pferd und Trainerin mehr als glücklich. heart

Derartige Beispiele könnte ich noch zu Haufe nennen (vielleicht schreibe ich irgendwann ein Buch?! cheeky), aber was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass Reitunterricht nicht nur reiten lehren bedeutet, sondern auch Pferde therapieren, Ängste abbauen, vorsichtige Ziele stecken, fördern ohne zu überfordern, physische und psychische Aspekte (sowohl bei Reitern, als auch bei Pferden!) beachten... Ich denke, als Trainer/in sollte man die Gabe haben, über den Tellerrand hinauszublicken, eine gute Auffassungsgabe haben, Zusammenhänge herstellen können, wissbegierig sein und niemals aufhören, alles zu hinterfragen, sich mit wichtigen Dingen auseinanderzusetzen und dazuzulernen.


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